Was die Kultur mit einem Strauß Petersilie gemein hat


Lassen Sie uns über den Lockdown und über Corona reden. Nicht, dass schon genug darüber geredet wurde. Aber wir wollen an dieser Stelle mal persönlich werden.

„Was wissen denn die politischen Entscheidungsträger schon über die Lebensrealität von Künstlern?“

Als erstes eine Frage, die in diesen besonderen Zeiten tatsächlich mehr als eine Floskel ist: Wie geht’s?
Wenn ich diese Frage vernünftig beantworten möchte, brauchen wir vermutlich etwas länger.
Aber kurz und bündig: Ich fühle mich leer und enttäuscht.

Warum das?
Nicht nur in Krisenzeiten waren und sind Kunst und Kultur der Rettungsanker der Gesellschaft, schaffen Reflexion und Ablenkung, versuchen Menschen auf andere Gedanken zu bringen – und wie ist es heute, jetzt gerade in dieser für alle so schwierigen Situation?
Heute scheint die Kultur nicht mehr als ein Strauß Petersilie auf den mit Wirtschaftsgütern reich gefüllten Tellern der Gesellschaft zu sein:
Nur ein bisschen schicke Deko für’s Auge, aber ob die Petersilie jetzt da ist oder nicht – wen juckt’s? Es ist nicht entscheidend.
Eigentlich sind wir doch alle gleich ( …ich weiß , ein frommer Wunsch …) – zumindest wenn es darum geht, unser aller Sozialsystem mit Steuergeldern zu füttern. Der Fiskus und damit der Staat machen hier keinen Unterschied, welchen Beruf sich der Steuerzahler oder die Steuerzahlerin ausgesucht hat, um den Staatssäckel zu füllen.
Man sollte meinen, dass die Gleichbehandlung auch in schlechten Zeiten zur Anwendung kommt.
Leider zeigt die Corona-Krise schmerzlich, daß dem nicht so ist. Hier erfahren bestimmte Bevölkerungsgruppen, dass sie blöderweise den falschen Beruf gewählt haben, ihnen Hilfe in dieser Krisensituation offensichtlich verweigert wird.
Die einen sind systemrelevant, die anderen nicht – die einen sind schätzenswert, die anderen nicht – die einen sind wichtig, die anderen nicht.
Was wissen denn die politischen Entscheidungsträger schon über die Lebensrealität von Künstlern? Die Perspektive, aus der sie ihre Entscheidungen treffen, ist leider sehr einseitig, weil sie sich gar nicht vorstellen können, das Berufe, die in ihren Augen keinen wirtschaftlich messbaren Gewinne verzeichnen (das Gegenteil ist mittlerweile bewiesen…), viel wichtiger für die Gesellschaft sind, als sie denken.

So geht es im Moment leider vielen Künstlern. Man hat das Gefühl, dass es kaum mehr jemanden interessiert, ob wir – die Petersilie – noch da sind oder nicht denn es ist ja immer noch genug Essen auf dem Teller (... da tue ich jetzt bestimmt einigen Leuten Unrecht …sorry dafür !) Momentan hat man uns auf jeden Fall auf dem Tellerrand abgelegt.

Und um beim Essen zu bleiben: Die Kultur ist doch eigentlich ein Grundnahrungsmittel für die Gesellschaft. Mit welchen Errungenschaften punkten wir denn? Dazu gehört doch unsere bis dato lebendige Kulturszene. Wir sind die Würze, die Finesse oder auch das Salz in der Suppe.
Jetzt werden wir stattdessen dafür bestraft, dass wir diesen Beruf gewählt haben. Wir können im Moment nicht genau einschätzen, wie hoch der Kollateralschaden sein wird und wir machen uns keine Vorstellung, was jetzt wirklich alles kaputt geht. Wie viele Soloselbständige überleben diese Krise finanziell nicht? Diese Menschen haben ihren Lebenstraum verwirklicht und werden jetzt allein gelassen – es ist eher ein Albtraum.
Wir Künstler sind unsichtbar geworden. Nicht nur, weil wir keine Auftritte mehr haben, sondern weil wir bei den aktuellen Maßnahmen schon gar nicht mehr erwähnt werden. Wir gelten als nicht systemrelevant. Keine schöne Situation.
Dabei gibt es sie doch gar nicht, die Systemrelevanz – jeder und jede ist systemrelevant, der oder die einer Beschäftigung nachgeht davon Steuergelder abgibt und damit das Sozialsystem stützt – Punkt!
Da sollte doch das Wort Solidarität extrem großgeschrieben werden, das ist aber eben keine Einbahnstrasse, sondern das sollte dann auch wirklich für alle gelten.

Das hört sich nach mächtig aufgestauter Wut an. Wie weit sind Sie persönlich von der Situation betroffen?
Ja, ich empfinde Wut, auch Enttäuschung wegen der geringen Wertschätzung.
Die Politik zeigt mit ihrem Verhalten, daß sie keinen Respekt hat vor Menschen, die sich über Jahre, Jahrzehnte vielleicht sogar noch länger eine Existenz aufgebaut haben und die jetzt mit einen Handstreich ausgelöscht wird.

Wieso wird es den betroffenen Berufsgruppen so schwer gemacht, an Hilfen zu kommen, wieso beschäftigt man sich eigentlich nicht mit diesen Berufsgruppen? Dann wüssten man nämlich, dass die Hilfen zwar gut gemeint, aber leider eine komplette Themaverfehlung sind.

Es soll unbürokratisch und schnell geholfen werden, diese Hilfen sind aber leider genau das Gegenteil.
Unkomplizierte Hilfe gibt es nur für ausgewählte Branchen und große Unternehmen.
Auch das zweifelhafte Angebot, diejenigen, denen ein Berufsverbot (!!!) auferlegt wurde in die Grundsicherung zu schicken, ist erbärmlich und erniedrigend, da fällt einem irgendwann nichts mehr dazu ein. Ich möchte nicht wissen, was andere Berufsgruppen dazu sagen würden, wenn man sie mit so einer Idee konfrontiert.

Was uns Künstlern nie passieren sollte, ist, die Lust am Beruf zu verlieren. Wir sind kreative Menschen, machen uns von berufsbedingt schon viele Gedanken, die jetzt noch mehr kreisen und zu keinem Ergebnis führen, weil es keine Perspektive gibt. Es gibt nicht diesen Tag X, auf den wir hinarbeiten können. Es ist auch die Angst da, dass wir die selbstverständlichsten Dinge unseres Berufes verlernen. Dass aufgrund fehlender Auftritte, des fehlenden Kontaktes zum Publikum irgendwann der Punkt kommt, wo man sich fragt, ob man das in Zukunft überhaupt noch machen kann. Ob man das dann schafft. Und von diesen Zweifeln bin ich natürlich auch betroffen. Ich versuche mit verschiedenen Projekten „im Training“ zu bleiben, aber das kostet Kraft, viel mehr Kraft, als früher ein Konzert zu geben. Da wirst du vom Publikum getragen, vom Applaus belohnt. Jetzt musst du dich selbst motivieren und keiner applaudiert.

Wie gehen Sie mit dem neuerlichen Lockdown um?
Mich ärgert die Ideenlosigkeit der Entscheidungsträger. Wir sind uns doch eigentlich im Klaren darüber, dass dieses Virus uns in der nächsten Zeit begleiten wird. Das bedeutet, dass wir einen Umgang damit finden müssen (zum Beispiel viel mehr testen!) und nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag den Laden dicht machen können.
Wenn die Politik die Verzweiflung und die Existenzängste der Menschen beim Blick auf das leere Bankkonto als körperlichen Schmerz spüren könnten, würden Entscheidungen vielleicht flotter und unbürokratischer getroffen werden, dann würden vor Monaten schon getroffenen Versprechen ohne Umschweife schneller umgesetzt werden.
Vielleicht wäre es auch mal von Vorteil, wenn die Politik mit guten Beispiel voranschreiten würde.
Politiker und Entscheidungsträger sollten sich selbst einmal in die Lage begeben, in der sie erwarten, dass so viele Menschen hier im Land überleben sollen – seit fast einem Jahr!!!
Sie könnten es sich zum Beispiel leisten, komplett auf ihr Einkommen und Diäten zu verzichten. Dann würde man ihnen vielleicht ein Stück weit glauben, dass auf Worte Taten folgen.

Passend dazu schilderte Katharina Witt In einem kürzlich erschienenen Facebook - Post folgendes:
Meine frühere Trainerin Frau Müller hat mit mir gemeinsam manches Wochenende „gehungert", wenn sie meinte, ich bin mal wieder zu dick fürs Eis. Aus Solidarität hat sie mit mir gemeinsam fast nichts gegessen, obwohl sie schon so schmal wie ein Handtuch war. Aber das war ehrliches Teamwork!
Die Trainerin ist mit guten Beispiel voran gegangen. Bei uns gibt es kein „Wir“ mehr. Die Politik macht eben leider nicht den Eindruck, mit guten Beispiel voranzugehen.

Kann man aus dieser Situation auch etwas Gutes ziehen?
Natürlich ist es auch so, dass man Zeit geschenkt bekommt, zum Beispiel mit der Familie – und die gilt es vernünftig zu gestalten. Man stellt auch Dinge auf den Prüfstand, findet neue Interessen, kann über Projekte nachdenken. All dies, wofür wir sonst nur zwischen Tür und Angel Zeit haben. Viele Kollegen entdecken neue Talente, beschäftigen sich notgedrungen mit anderen Möglichkeiten des Geldverdienens. Ein Kollege von mir hat sich aus einem aktuellen und erfolgreichen Musikprojekt verabschiedet, weil er auf einmal den nötigen Abstand dazu hatte. Er hatte einfach Lust auf Veränderung, auf Neues. Auch die Einsicht, etwas lange genug gemacht zu haben und dem Nachwuchs eine Chance zu geben, hat dabei eine Rolle gespielt. Er hat diese Phase genutzt, um sich neue Impulse zu holen. Im „normalen“ Leben wäre er nur von Termin zu Termin, von Auftritt zu Auftritt gehetzt. Vielleicht schärft der Lockdown unsere Sicht und wir widmen uns mehr den elementaren Dingen. Es ist ja auch eine elementare Situation.

Was wäre denn ihr Vorschlag um die Krise zu bewältigen?
Die Frage stelle ich mir auch oft, aber es gibt keine allgemein gültige Lösung. Welche Krise wollen wir denn bewältigen. Die Pandemie? Die Krise der Menschheit? Die gesellschaftliche Krise? Wir sollten vielleicht einfach lernen, besser auf uns und unsere Umwelt aufzupassen. Themen wie Nachhaltigkeit sind vielleicht wichtiger als Umsatz und Konsum. Der Sarg hat keine Regale, ich kann nichts mitnehmen. 
Die Krise zu bewältigen, erfordert globale Lösungen und schlaue Köpfe. Jeder – auch ich – kann aber vor seiner eigenen Tür kehren und seinen kleinen Beitrag leisten anstatt mit dem Finger auf andere zu deuten. Das hat aber auch nicht nur was mit Corona zu tun.
Was übrig bleibt, ist die Frage, was ist eigentlich wichtig? Emotionen, Träume, Schmetterlinge im Bauch schaffen kein wirtschaftliches Ergebnis, daher wird es aus dem Leben verdammt. Aber dabei sind solche Dinge lebenserhaltend. Oder die Schule: Mathematik, Physik, Chemie wird viel höher bewertet, als Musik und Kunst. Dabei ist dies genau so wichtig, wenn nicht viel wichtiger. Um den Bogen wieder zur Petersilie und zum Essen zu schlagen: Ein voller Bauch alleine macht noch nicht glücklich.
Wir sind alle unterschiedlich begabt und daher alle systemrelevant.
Wenn wir so weiter machen, werden Begriffe wie Empathie, Solidarität, Miteinander der Vergangenheit angehören – das wäre der Tod der Gesellschaft.



Februar 2021

Die Fragen stellte Martin Geiger   

Foto: Christoph Eberl